Zum Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft

Wie steht die Philosophie zu den Wissenschaften, besonders den Naturwissenschaften? Was halten die Wissenschaften von ihr?

Philosophie und Wissenschaft: Eine Beziehung mit vielen Missverständnissen

Fast im Monatstakt liest man Alarmierendes in den Medien:

  • "Begriffe philosophisch ungeklärt - Physiker-Konkress abgebrochen"
  • "Akuter Philosophenmangel: Chemiker reden aneinander vorbei. Fortschritt gefährdet"
  • "Kognitive Obdachlosigkeit und Grundlagen-Entzug wegen Philosophen-Streik: Universität schließt soziologisches Institut"

Dir sind die Horrornews nicht aufgefallen? Verständlich, sie sind das Ergebnis meiner eskalierten Phantasie. Dass naturwissenschaftliche Zusammenkünfte und Projekte auch ohne philosophisches Zutun florieren, muss jeden überraschen, der in Essay- und Katheder-Selbstvergewisserungen, die die weisheitsliebende Zunft zur Verstetigung ihres Zugangs zu akademischen Trögen aufbietet, erfährt, dass die Philosophie die Grundlagen der anderen Wissenschaften schaffe, notwendige Begriffe kläre, die anderen Wissenschaften kröne und ihre Mutter sei.

 

Ja, Mutter ist sie wohl (ein Vater ist unbekannt, Zeugen für den Zeugungsakt fehlen ebenfalls; einziger Fall von unbefleckter Empfängnis). Hervorgebracht hat sie sie. Aber die Gören sind erwachsen geworden und machen ihr eigenes Ding. Sehr erfolgreich. Sie brauchen Mama nicht mehr und kommen immer seltener zu Besuch. Jetzt heißt es: loslassen. Höflicherweise schauen die Kinder manchmal noch vorbei, darüber hinaus bestimmen Desinteresse oder Misstrauen bis hin zur offenen Verachtung samt eigenem Überlegenheitsgefühl die Beziehung.

 

Das ist häufig sehr berechtigt und selten gar nicht, dann aber ist Philosophie mit ihrer den ganzen Globus mehr als 2.500 Jahre umspannenden Ressource so groß, dass sie ihre Verächter als Dilettanten erscheinen lässt. Philosophie ist Grundsatzorientierung mit innovativen, rebellischen Schüben. Wer ihre Tradition nicht kennt, wird in fundamentalen Angelegenheiten des menschlichen Lebens mit gewisser Wahrscheinlichkeit im Modus fortgeschrittener Naivität argumentieren, vornehmer: selbstsicher in sein etabliertes "Gewissen" zurücksacken und den "gesunden Menschenverstand" verlässlich einrasten lassen.

Früher war alles besser: Philosophie ohne Wissenschaft

Was waren das für schöne Zeiten. Der Philosoph setzte sich hin und verkündete Wahrheiten über die Natur, die heute nichts weiter sind als schnell falsifizierte Arbeitshypothesen von kurioser Schmunzelanekdotenhaftigkeit. Systematische Experimente, Mathematisierung, harte Wahrheitskriterien, alles noch weit weg. Untersuchen, forschen, das hieß vor allem: assoziativ im Lehnstuhl grübeln, phantasieren, fabulieren.

 

Nach und nach aber wurde die Brut flügge: in der ersten Welle Physik, Chemie, Biologie, Mathematik. Viele Geisteswissenschaften folgten, zuletzt Psychologie und Soziologie. Ausdifferenzierung als Ausblutung.

 

Strategische Reaktion?

 

Rückzug aufs Kerngeschäft: Nachdenken über das große Wohin und Wozu, in distanzierter Verbundenheit zum Zeitgeist, mithilfe der Vergangenheit die Zukunft schöpfend. Ein professioneller Beitrag zur Erfindung des menschlichen Lebens.

Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Wolfram (Sonntag, 20 Dezember 2020 18:25)

    Was für ein großes Thema.
    Es könnte sein, dass die Naturwissenschaft früher von Philosophen betrieben wurde. Dann hat sich die Naturwissenschaft verselbständigt, weil sie wohl objektive Ergebnisse angestrebt hat und mit den vielen subjektiven und miteinander im Widerspruch stehenden Einzelphilosophien (...ismen) nicht mehr weiter kam. Die Wissenschaft hat sich dann selbst zum Gegenstand genommen (die Wissenschaft von der Wissenschaft), ihre Methodik der Widerspruchsfreiheit beibehalten und auf diese Weise die Wissenschaftstheorie entwickelt. Man kann diese Theorie als Philosophie sehen, wenn man mag. In der Wissenschaft sind wohl die Begriffe Argument und Wahrheit von zentraler Bedeutung, wie auch die Kalküle der Logik und der Mathematik. Formale Logik, Argument und Wahrheit werden in der Philosophie oft ziemlich beliebig interpretiert und verwendet, als Folge der grundsätzlichen Freiheit des philosophischen Denkens. Beliebigkeit ist (leider) kein allgemein von den Philosophen anerkanntes Ausschlusskriterium. In der Wissenschaft ist Beliebigkeit der leibhaftige Gottseibeiuns.
    Welcher Weg ist der Bessere, von der Philosophie in die Wissenschaft oder umgekehrt? Oder anders gefragt, wer von beiden soll Führungsinstanz sein? Offene Frage. Ich denke, die Naturwissenschaft, hier die Physik, hat ordentlich unter den Aprioris der Philosophie gewütet: Raum, Zeit, ausgeschlossener Dritter, Kausalität...
    Wolfram

  • #2

    AlexJ (Montag, 21 Dezember 2020 00:46)

    Hi Wolfram, danke für deinen Beitrag!

    Weder benötigt die Naturwissenschaft philosophische Führung, noch braucht die Philosophie naturwissenschaftliche Anleitung. Auch gesellschaftlich muss keine der beiden Traditionen die Führung übernehmen. Sie können problemlos koexistieren und sich um die Beantwortung spezifischer Fragen kümmern, die uns wichtig sind.

  • #3

    Wolfram (Montag, 21 Dezember 2020 13:09)

    Hallo Allex, danke für deine Rückmeldung.
    Dein Thema impliziert die ernsthafte Frage, welches Verhältnis nun besteht zwischen Philosophie und Wissenschaft. Beim Nachlesen sehe ich, dass Du oben eine Glosse geschrieben hast. Mein Kommentar soll deshalb bitte nicht in eine Diskussion führen.
    Viele Grüße, Wolfram

    PS: Ich hatte versucht, zu deinem Blog zu den ETFs einen kurzen Kommentar bzgl. der Steuerbelastung bei aktiven Anlagen zu schreiben (ich habe das per excel ausgerechnet und bestätigt). Der Beitrag ist vielleicht nicht angekommen. Ist die Kommentarfunktion aktiviert? W

  • #4

    AlexJ (Montag, 21 Dezember 2020 16:56)

    Hi Wolfram, deinen Beitrag habe ich leider nicht erhalten. Die Kommentarfunktion sollte überall aktiviert sein. Versuche es gerne noch einmal ich freue mich immer sehr.